Die Bernhard-Kahn-Lesehalle

Nur wenige Tage bevor am 9. November 1938 in Mannheim die Synagogen und Einrichtungen der jüdischen Gemeinde von SA-Angehörigen gestürmt und zerstört wurden, feierten die Spitzen der nationalsozialistischen Kulturpolitik der Stadt die Eröffnung der Zweigstelle der Volksbücherei in der Neckarstadt West.

An der Ecke Lortzingstraße/Mittelstraße wurde eine Bibliothek (wieder-)eröffnet, die an dieser Stelle bereits seit 1907 bestanden hatte. Die Bernhard-Kahn-Lesehalle bildete während des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik ein kulturelles Zentrum für die überwiegend von Arbeitern bewohnte Neckarstadt West.

Bücher aus der Bernhard-Kahn Lesehalle in den Beständen der Universitäts­bibliothek Mannheim sind das erste Beispiel für Funde aus dem Projekt Provenienzforschung und NS-verfolgungs­bedingt entzogenes Kulturgut.

Die Lesehalle in der Neckarstadt-West

Die Lesehalle in der Neckarstadt-West wurde 1907 von Emma Kahn zum Andenken an ihren Mann gestiftet und vom Verein für Volksbildung betrieben. Kahn war als Unter­nehmer und Bankier sowohl in Mannheim als auch in den USA erfolgreich. Neben seinem unter­nehmerischen Engagement war er als Kommunalpolitiker Ingo Mannheim aktiv.

Die Lesehalle in dem Haus an der Ecke Lortzingstraße/Mittelstraße ermöglichte den Benutzer*innen den Zugang zu Sachbüchern und Belletristik vor Ort und ergänzte die Volksbücherei im Herschelbads. Mit zahlreichen Zeitungen im Lese­bereich und einem umfangreichen Freihandbestand war die Bibliothek eine moderne Volksbücherei und Ausdruck des Bildungs­optimismus der sogenannten Bücherhallenbewegung.

Bis in die 1920er Jahre wurde die Volksbildung in Mannheim vor allem von bürgerlichen Stiftungen getragen, doch im Zuge der Wirtschafts­krise nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu einer zunehmenden „Kommunalisierung“.

Ein Jahr nach der Schlossbibliothek wurde 1922 auch die Volksbücherei von der Stadt übernommen, während die Bernhard-Kahn-Lesehalle noch länger selbständig blieb. Durch mehrere Zustiftungen, insbesondere durch Bernhard Kahns Sohn Otto , konnte die Bibliothek mehrfach erneuert und erweitert werden. Eine letzte grundlegende Renovierung und Erweiterung der Lesesäle erfolgte 1927.

Vor allem in der Zeit der Weltwirtschafts­krise ab 1930 wurden die öffentlichen Bibliotheken intensiv genutzt. Die arbeits­losen Mannheimerinnen und Mannheimer konnten hier nicht nur die Zeit mit Lesen überbrücken, sondern sich in der kalten Jahreszeit auch aufwärmen (Wendling, 1961, S. 24). Die zeitgenössische Statistik stellte fest, dass über 40% der Nutzer*innen erwerbslos waren.

Zur gleichen Zeit fand eine intensive Zusammenarbeit mit anderen städtischen und privaten Volksbildungs­einrichtungen statt. Zum Bespiel mit der Volkshochschule unter der Leitung von Paul Eppstein, die unter anderem Ausbildungs­kurse für arbeits­lose Jugendliche in den Räumen der Bernhard Kahn Lesehalle anbot.

Er­kenntnisse der Provenienzforschung

Das Exemplar aus dem Bestand der Universitäts­bibliothek, das hier beispielhaft für die Er­kenntnisse der Provenienzforschung zu Büchern aus der Bernhard Kahn Lesehalle steht, ist „Der Bund der Freimaurer“ von August Horneffer (Wikipedia). Der Band ist eine knappe Über­blicksdarstellung über die Freimaurerei, richtete sich an ein Laienpublikum und wurde bereits 1913 bei Diederichs in Jena veröffentlicht.

Horneffer war selbst Freimaurer und arbeitete als Autor und Publizist, unter anderem für das Friedrich-Nietzsche-Archiv in Weimar. Obwohl August Horneffer keineswegs als Gegner des Nationalsozialismus gelten kann, wurden die Freimaurerei im Allgemeinen und die einzelnen Logen unter Hitler verboten und verfolgt. Insbesondere die Logenbibliotheken wurden beschlagnahmt und teilweise in die Bestände wissenschaft­licher Bibliotheken eingegliedert.

Horneffer war selbst Freimaurer und arbeitete als Autor und Publizist, unter anderem für das Friedrich-Nietzsche-Archiv in Weimar. Obwohl August Horneffer keineswegs als Gegner des Nationalsozialismus gelten kann, wurden die Freimaurerei im Allgemeinen und die einzelnen Logen unter Hitler verboten und verfolgt.

Insbesondere die Logenbibliotheken wurden beschlagnahmt und teilweise in die Bestände wissenschaft­licher Bibliotheken eingegliedert.

Der vorliegende Band stammt allerdings aus der Bernhard-Kahn-Lesehalle, wie das große Ex-Libris auf der Innenseite des Buchdeckels mit einem großen Exlibris verdeutlicht.

Neben dem großen Exlibris trägt er den kleinen ovalen Stempel der städtischen Schlossbücherei auf der Rückseite des Titelblatts der umgeben ist mit Angaben zur Inventarnummer und der dazugehörigen Seite im Akzessionsjournal.  Auf dem Titelblatt ist ebenfalls noch die ehemalige Signatur K 470 zu erkennen. Die Standortsignatur innerhalb des Bestandes der Universitäts­bibliothek lautet XD 0544 und weist daraufhin, dass das Buch der Städtischen Schlossbibliothek entstammt.

Die Gleichschaltung der städtischen Bibliotheken in Mannheim

Wie aber kam der Band in den Bestand der Städtischen Schlossbücherei und damit der Universitäts­bibliothek Mannheim? Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten begann auch die Gleichschaltung und Umstrukturierung des Volksbüchereiwesens im Deutschen Reich.

Unter den bereits erwähnten Thoms und Drös wurde der Verein für Volksbildung, der die Bernhard-Kahn-Lesehalle unter­hielt, aufgelöst und die Bibliothek der Städtischen Volksbücherei angegliedert. Gleichzeitig sollten die Spuren des jüdischen Stifters verwischt werden und die Bernhard-Kahn-Lesehalle wurde in Volkslesehalle umbenannt. Bemerkenswert ist, dass nach einer kurzen Phase unmittelbar nach der Über­nahme unter der Leitung von Walter Thoms die Bücherei offenbar für die nächsten Jahre ungenutzt blieb und geschlossen wurde.

Mit der (Wieder-)Eröffnung 1938 erfolgte auch eine ideologische „Säuberung“ des Buchbestandes. Bereits seit 1933 wurden in den öffentlichen Bibliotheken des Deutschen Reiches breit angelegte Aussonderungen „unerwünschter Literatur“ durchgeführt, deren deutlichster Ausdruck die Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 waren. In diesem Rahmen entstanden erste Versuche systematischer Listen mit auszusondernder Literatur. Sie enthielten die Namen sozialistischer, jüdischer, aber auch freimaurerischer Autoren.

Eine reichsweit gültige »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« wurde jedoch erst 1939 von den Bibliothekaren der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig erstellt. Dennoch: „Von den 283.000 Bänden, die sich 1934 in den [badischen] öffentlichen Bibliotheken befanden, waren 1936 nur noch 177.392 Bände vorhanden“ (Jan-Pieter Barbian, Bibliothekswesen, in: Ernst Fischer/Reinhard Wittmann (Hg.), Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 3: Drittes Reich, Berlin 2023, 713–764, hier S. 735). Ein Teil dieser Bände wurde, wie im vorliegenden Fall, an wissenschaft­liche Stadtbibliotheken, Universitäts- oder Landes­bibliotheken abgegeben, der größte Teil jedoch kassiert und vernichtet.

„Von den 283.000 Bänden, die sich 1934 in den [badischen] öffentlichen Bibliotheken befanden, waren 1936 nur noch 177.392 Bände vorhanden“ Jan-Pieter Barbian

Zusammenfassung

Aus dem Bernhard-Kahn-Lesesaal gelangten in der ersten Hälfte des Jahres 1939 neben jüdischen und sozialistischen Titeln auch weitere freimaurerische Werke in den Bestand der Schlossbibliothek, so z. B. „Deutsche Freimaurer zur Zeit der Befreiungs­kriege“ (1913) von Julius Haarhaus. Besonders umfangreich ist auch der Bestand an französischsprach­igen Büchern.

Die Provenienzforschung zu einzelnen Büchern in den Beständen der Universitäts­bibliothek erschließt historisches Wissen auf verschiedenen Ebenen. Der einzelne Band und sein Besitzerwechsel verweisen auf Aussonderungs- und Zensur­praktiken, die eine ideologisch einwandfreie Volksbibliothek im Dienste der nationalsozialistischen Propaganda schaffen sollten.

Der Blick auf die Vorbesitzerin macht aber auch deutlich, dass die Gleichschaltung selbstverständlich auch die Bibliotheken selbst, ihre Namen und ihre Organisation betraf. So wird der Blick auch auf historische Personen gelenkt, zum Beispiel auf die Leiterin der Städtischen Volksbüchereien Elisabeth Jacobi (Wikipedia), die nach der Machtübernahme ihr Amt zunächst weiter ausüben konnte, 1937 aber in den Ruhestand versetzt wurde.

Oder Paul Eppstein (Wikipedia), Leiter der Volkshochschule, die eng mit der Bernhard-Kahn-Lesehalle zusammenarbeitete; er wurde noch 1933 entlassen. Er erlebte die antisemitische Verfolgung in der Reichsvertretung der Juden in Berlin und starb 1944 im Ghetto Terezín (Theresienstadt).

Quellen & Literatur

Barbian, Jan-Pieter. „Bibliothekswesen“. In Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, herausgegeben von Ernst Fischer und Reinhard Wittmann, Bd. 3: Drittes Reich, Berlin: De Gruyter, 2023, S. 713–764. 

Bleeck, Klaus. „Von der ‚Zersplitterung‘ zur Einheit. Entwicklungs­tendenzen der Bibliotheken der Stadt Mannheim in der Zeit der Weimarer Republik“. In Stadt und Bibliothek: Literatur­versorgung als kommunale Aufgabe im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, hg. v.  Jörg Fligge und Wolfenbütteler Arbeits­kreis für Bibliotheksgeschichte, Wiesbaden: Harrassowitz, 1997, S. 231–96.

Förderverein der Bernhard Kahn Bücherei Mannheim-Neckarstadt: http://www.bernhard-kahn-buecherei.de/.

MArchivum, Zeitungs­sammlung, Hakenkreuzbanner.

MArchivum, Akten aus den Betänden: 21/1968; 13/1977; 10/1971

Wendling, Willi. Die Mannheimer Städtische Volks- und Musikbücherei, 1895 – 1961: zur Eröffnung der Neuen Hauptstelle im Dalberghaus. Mannheimer Großdruckerei, 1961.